Basler Zeitung, Dienstag, 1. April 2003, S.36:


Sinn und Unsinn, einfach und doppelt
Nichtexistierende Nichtexistenz. In ihrer Performance «Nenns Nicht» stellt die «Gruppe 01» die Suche nach einem Weg zwischen Realität und Idealität dar.
Foto Tino Briner

Die Literaturwissenschaftlerin Judith Henke soll an einem Berliner Kolloquium über das Werk des Autors D.S. Juan referieren. Er ist ihr Geliebter und soll nachkommen, am Flughafen wartet sie auf ihn. In Berlin trifft er indessen nie ein, seine Maschine, erfährt sie, ist abgestürzt. Soll sie ihren Vortrag über ihn dennoch halten? Sie tuts, mit Erfolg, bricht aber danach zusammen und muss sich mühsam wieder hochrappeln. Als sie auf dem Flughafen auf die Maschine für den Rückflug wartet, löst sich ihre Stimmung allmählich – sie erkennt die Chance, welche die «nichtexistierende Nichtexistenz» ihr bietet.

«Nenns Nicht» heisst die «Performance in fünf Bildern», mit der die «Gruppe 01» gegenwärtig im Theater Scala gastiert. Die Truppe unternimmt etwas Kühnes: Sie verknüpft die erwähnte Handlung mit Gedichten und Prosatexten von Christian Uetz. Aus dessen Werk hat sie Passagen bearbeitet und diese in überraschende Bilder umgesetzt, ohne dass die Worte je zur blossen Tonspur werden. Erzählt wird mit Schauspiel, Eurythmie und Gesang, mit Musik und Licht, in einer Choreografie von Angelika Mollwo.

Die Performance bedient sich mehrerer Ebenen gleichzeitig und lädt die vordergründig einfache Geschichte mit abgründigen, existenziellen Fragen auf. Dargestellt wird die Suche nach einem Weg zwischen Realität und Idealität, im Wissen darum, dass es keinen dauerhaften Halt gibt, nur das Bemühen darum. Das Wortmaterial der Uetzschen Texte, das hier differenziert auch als Klangmaterial inszeniert wird, entstammt zwar einem alltäglichen Sprachgebrauch, wird aber durch Versprecher, Bedeutungsverschiebungen und doppelte Negationen ständig neu arrangiert. Letztlich kreisen die Uetzschen Gedichte und Prosastücke um Sinn und Unsinn.

Vergangenen Samstag gab es im Theater Scala den Autor gleich doppelt: Neben dem rezitierten Uetz war auch der rezitierende Uetz selber zu hören. In einem furiosen Auftritt trug er aus seinem Band «Don San Juan» vor. So temporeich, so alert inszeniert, dass seine Rezitationen zum beinahe körperlichen Erlebnis wurden. «Des Wortes Lust ist Liebe, des Leibes Liebe Lust» – und noch ehe man dem zugestimmt hat, ist der Lautpoet bereits sieben Sätze weiter, beim Nichts, bei dem also, «was sich nur denken und nur sagen lässt». Martin Zingg



Basellandschaftliche Zeitung, Montag, 31. März 2003, S.7:


Das Wort wird Ort
CHRISTIAN UETZ / Die «gruppe01» spielt im Scala Theater ein Stück nach Texten des Ostschweizers. Am Samstag las er dort selber

Die namhafte Literaturwissenschaftlerin Judith Henke (Astrid Marti) verliert ihren Dichter-Mann. Ein Schock. Sie hält ihren Vortrag am Kongress (Thema: das Werk ihres Mannes) souverän. Zurück im Flughafen, dem Ausgangspunkt des Stücks, akzeptiert sie das Unvermeidliche. Überträgt es in eine fast ekstatisch beschworene «Idealität».

Das Thema des Stücks «Nenns nicht» der «gruppe01» ist das bekannte «Schicksal als Chance». Der Text beruht auf Gedichten des Ostschweizer Lyrikers und Wortakrobaten Christian Uetz (geboren 1963). Die von Marie und Rudolf Steiner entwickelten Ideen über Ausdruckstanz, Gesang, dramatische Gestaltung und deren Synthese (eine mögliche Definition des Begriffs «Eurythmie») gehen hier in einem Textkorpus auf, dessen unverkennbar dadaistischer Bodensatz ja.ursprünglich aus (fast) der gleichen Zeit stammt.

Der Regie gelangen bezaubernde Bilder
Das macht einen erheblichen Reiz der Aufführung aus, hält die von der «Eurythmie» aus entworfenen Szenen durchlässig. Die eurythmischen Darbietungen mögen für Nicht-Anthroposophen, zumal in der dramaturgischen Anlage, unangemessen, übertrieben wirken. Allerdings gelingen der Regie (Flavia Montello) einige bezaubernde Bilder.

So reicht «Heroine», die Allegorie der Inspiration (Franziska Meier singt und spielt mit bezaubernder Wärme), der Dozentin am Ende die leitmotivisch verwendete Disco-Kugel. Die Handlungsträgerin nimmt die Kugel (ihr Schicksal) ganz in die eigene Hand. Die Frau tanzt, wiegt die Kugel in der Hand, fängt das schwindende Licht darin. Ganz hinten hebt «Heroine» die Arme.

Donald Vollen, Intendant des Hauses Scala Basel, kam nach der Pause auf seine Bedenken zurück, ob Uetz' Wortkompositionen überhaupt Bilder ertragen würden. Er beantwortete die Frage nicht. Margrit Manz vom Literaturhaus Basel führte Christian Uetz mit Sätzen ein, die den zungenbrecherischen Charakter von Uetz' Wortmaterial geschickt aufnahmen.

Uetz eigene Performance als Fortsetzung des Stücks
Da stand er dann, ganz in Schwarz, auf der Empore des Foyers, von wo die beiden Treppen in den Theatersaal hinaufführen. Die Geister aus der Aufführung und die Wörter mochten ineinander aufgegangen sein. Die Dreiviertelstunde der auswendig gehaltenen Performance zeigte einen ausgebufften Showman.

Aber das waren mehr als hurtig zusammengeklebte Gedankenblitze, Texte von hohem Wiedererkennungswert und literarischem Rang. Motivketten liessen Binnenbewegungen zu, von der Liebe zur gegenwärtigen Weltlage («Friede ist das Ende der Welt, das wir selber sind.»), wechselten im Nu von der Schriftsprache in die Mundart.

Hegel und Nietzsches «Also sprach Zarathustra» paradierten, das Vaterunser, der Anfang des Johannes-Evangeliums. Der brennende Dornbusch fand sich zu Homers «rosenfarbener Dämmerung». Don Quixote. Die «ewige E-Rose» führte zum Anfang zurück. Das zum Schluss gar geschrieene «U-O-R-T» fasste erneut zusammen, dass «Gott» «Wort» und damit «Ort» geworden ist. Diese Passage wurde auch im Stück verwendet. Die forschere Gestaltung durch Uetz bot so Fortsetzung des im Stück Gesehenen. Uetz kehrt das autoritäre Grundmoment des Vortrags (gespiesen aus dem Bekenntniszwang des Lyrikers, dem Erzählzwang des Epikers) gegen sich selbst: um damit den Kern, das Wort, aus sich selber heraus, mit dessen eigenen Mitteln also, zu befreien und auf alles noch Kommende und Mögliche hin zu öffnen. Urs Grether



Wochenschrift Das Goetheanum, 13. April 2003, S.11:


Durchbrechende Einsamkeit
Performance <Nenns Nicht> der <gruppe01>

[Foto:] Heroine (Franziska Meier) als allegorische Inspiration Judith Henkes (Astrid Marti), die ihre Lebenskrise allmählich faßt – mit einem <Stimmungswesen> (Christof Mollwo)

Flughafengeräusche. Eine Anzeigetafel. Unauffällig werden alle Flüge annulliert. Kein technischer Fehler, sondern Folge eines Flugzeugabsturzes. Literaturwissenschaftlerin Judith Henke, die ihren Geliebten, den Autor Don San Juan, erwartet, bricht schockiert zusammen.

Mit jedem Unglück ist menschliches Schicksal verbunden. Seelische Konflikte treten hervor – nicht beschreibbar; das Schicksal verstehen – schwer zu formulieren; eine Situation neu erschließen – kaum in Worte zu fassen.

Das freie Ensemble <gruppe01> hat seinem ersten Programm mit <Nenns Nicht> einen treffenden Namen gegeben: Denn der Schweizer Autor Christian Uetz gibt dem Unaussprechlichen – das Henke bis zum <Verarbeiten> des Verlustes ihres Geliebten durchmacht – Sprachformen, die beredt der Einsamkeit und dem Erlebnis des Nichts(eienden) Ausdruck verleihen. Uetz' Sprachmittel sind verspielte Wortspiele, manchmal unverbindlich assoziativ, aber auch in ernste existentielle Gebiete führend.

Das Ensemble hat die Texte sinngebend zu einer Handlung verbunden, was erstaunlich konsistent gelingt, zumindest wenn man den Handlungsstrang zuvor im Programmheft las. Die Atmosphäre erinnerte mich an die entfremdete, intime Stimmung, die in Wim Wenders Film <Der Himmel über Berlin> durch die Verbindung von Realwelt mit lyrischer Sprache entsteht. Dieser Zusammenklang kulminiert im Vortrag Henkes über ihren Geliebten als Dichter, wenn der Sprachduktus von Uetz in der akademischen Reflexion Henkes frappierend dem universitären Sprechstil entspricht.

Die Inszenierung arbeitet mit verschiedenen seelischen Perspektiven: Die Heroine (Gesang und Schauspiel) ist eine groteske, das Geschehen unsichtbar mitgestaltende und kommentierend lenkende Figur, die auch auf Henke (Schauspiel) einwirkt; eurythmisch-tänzerische Darstellungen greifen Stimmungen und Seelenbewegungen auf – und all das als Wirkenssphäre einer jüngeren Generation, die wie Henke zu Popmusik im Park joggt, worauf sich ihre <Seele> auch, auf der Parkbank sitzend, bewegt... Zusammen mit symbolischen Elementen (Perlenkette als Schicksalsfaden, Glitzerkugel als Sternensphäre) und Humor gestaltet das Ensemble eine schillernde Zwischenwelt, die die Realwelt verläßt, aber nicht zum Geistigen durchbricht – was sich bei der Premiere am 28. März auch auf das Schauspiel und bei manch gebundener, krafterfüllter eurythmischer Geste auswirkt.

Die ungewöhnliche Melange macht dabei die spezifische Sprache von Uetz adäquat sichtbar und greift Aspekte existentieller Fragen in der Erlebniswelt der heute 30- bis 40jährigen auf. Wenn es der ambitionierten <gruppe01> gelingt, ihre Arbeit wie geplant weiterzuführen, wird sich zeigen, zu welchen bemerkenswerten Programmen diese selbständige Bühnensprache noch führen wird. Sebastian Jüngel

Kontakt (weitere Aufführungen): <gruppe01>, Rainweg 22, CH-4143 Dornach, Tel./Fax +41 (0)61 702 19 75, info@gruppe01.ch, www.gruppe01.ch.



Dokumentation: gruppe01, «Nenns Nicht», Christian Uetz

Aufführungen (Orte und Termine)

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